Direkt zum Hauptbereich

Schöpfungsmythos Finnland

Kalevala, der finnische Nationalepos

Das Kalevala ist ein von Elias Lönnrot im 19. Jahrhundert auf der Grundlage von mündlich überlieferter finnischer Mythologie zusammengestelltes Epos. Es gilt als finnisches Nationalepos und zählt so zu den wichtigsten literarischen Werken in finnischer Sprache. Die erste Fassung des Werkes erschien im Jahr 1835. Der Titel ist abgeleitet von Kaleva, dem Namen des Urvaters des besungenen Helden, und bedeutet so viel wie „das Land Kalevas“. Der Standardtext des Kalevala besteht aus 22.795 Versen, die in fünfzig Gesängen ("50 Runen") vorgestellt werden.
Bereits im 17. Jahrhundert waren vereinzelte Lieder aufgezeichnet worden, aber ein wirkliches wissenschaftliches Interesse an der finnischen Volksdichtung entstand erst Ende des 18. Jahrhunderts. Unter anderem Henrik Gabriel Porthan, der bedeutendste finnische Humanist seiner Zeit, zeichnete Volkslieder auf und veröffentlichte 1766–1778 das Werk De Poësi Fennica („Über die finnische Dichtung“).

1. Rune
1–102 Einleitung
103–176: Die Tochter der Luft läßt sich ins Meer hinab, wo sie von dem Winde und den Wogen geschwängert zur Wassermutter wird
177–212: Eine Ente baut ihr Nest auf ihrem Knie und legt dort Eier 
213–244: Die Eier rollen ins Meer hinab und zerbrechen, aus ihren einzelnen Theilen entstehen Erde, Himmel, Sonne, Mond und Sterne. 
245–280: Die Wassermutter schafft Landzungen, Busen, Uferland, Tiefen und Untiefen des Meeres. 
281–344: Wäinämöinen wird von der Wassermutter geboren und treibt lange auf den Wogen einher, bis er endlich ans Ufer gelangt.
(…)

1. Rune Verse 103-344
103  Hörte oftmals also sagen,
Hörte oft im Liede singen:
Einzeln nahen uns die Nächte,
Einzeln leuchten uns die Tage,
Einzeln ward auch Wäinämöinen,
Dieser ew’ge Zaubersprecher,
Von der schönen Lüftetochter,
110 Die ihm Mutter war, geboren.
 Jungfrau war der Lüfte Tochter,
Sie, die schöne Schöpfungstochter,
Trug gar lang’ ihr einsam Dasein,
Alle Zeit ihr Mädchenleben
In der Lüfte langen Räumen,
Auf den flachgebahnten Fluren.
Einsam ward ihr dort das Leben
Und das Sein gar unbehaglich,
Immerfort allein zu weilen,
120 So als Jungfrau dort zu wohnen
In der Lüfte langen Räumen,
In der weitgestreckten Öde.
Nieder ließ sich da die Jungfrau,
Senkt sich auf des Wassers Wogen,
Auf des Meeres klaren Rücken,
Auf die weitgedehnte Öde;
Fing ein Sturmwind an zu blasen,
Aus dem Osten wildes Wetter,
Treibt das Meer zu wildem Schäumen,
130 Daß die Wellen wüthend wogen.
Sturmwind wiegte dort die Jungfrau,
Mit ihr spielt des Meeres Welle
Auf dem blauen Wasserrücken,
Auf den weißbekränzten Fluthen;
Schwanger blies der Wind die Jungfrau
Und das Meer verlieh ihr Fülle.
Und es trug des Leibes Härte,
Seine Fülle sie mit Schmerzen
Ganze siebenhundert Jahre,
140 Trug sie neun der Mannesalter,
Ohne daß das Kind geboren,
Daß zum Vorschein es gekommen.
Also schwamm als Wassermutter
Bald nach Osten, bald nach Westen,
Bald nach Norden, bald nach Süden,
Sie zu allen Himmels Rändern,
Angstvoll ob der Frucht des Windes,
Bei des Leibes argen Schmerzen,
Ohne daß das Kind geboren,
150 Daß zum Vorschein es gekommen.
Fing da leise an zu weinen,
Redet Worte solcher Weise:
„Weh mir armen ob des Schicksals,
Wehe mir ob meines Wanderns!
Wohin jetzo ich gerathen,
Daß ich aus der Luft gekommen,
Daß der Sturmwind mich hier wiege,
Daß die Welle mit mir spiele
Auf den weiten Wasserstrecken,
160 Auf den ausgedehnten Fluthen.“
 „Besser wäre es gewesen,
Wär’ ich Jungfrau in den Lüften,
Als in diesen fremden Räumen
Wassermutter jetzt zu werden.
Frostvoll ist mir hier das Leben,
Mühvoll ist hier die Bewegung,
In den Wogen so zu weilen,
In dem Wasser so zu wandern.“
„Ukko, du, o Gott dort oben,
170 Du des ganzen Himmels Träger!
Komm herbei, du bist vonnöthen,
Komm herbei, du wirst gerufen,
Lös’ das Mädchen von den Qualen
Von den Wehen du die Jungfrau,
Komm’ geschwind und eile schneller,
Schneller, wo man dich ersehnet!“

Wenig Zeit war hingegangen,
Kaum ein Augenblick verflossen,
Sieh, herbei eilt eine Ente,
180 Fliegt herbei der schöne Vogel,
Suchet sich zum Nest ein Plätzchen,
Suchet eine Wohnungsstelle.
Flog nach Osten, flog nach Westen,
Flog nach Norden und nach Süden,
Kann kein solches Plätzchen finden,
Nicht die allerschlechtste Stelle,
Wo ihr Nest sie machen könnte,
Eine Stätte sich bereiten.
Flieget langsam, schauet um sich,
190 Dachte nach und überlegte:
„Baue ich mein Haus im Winde,
Auf den Fluthen meine Wohnung,
Würd’ der Wind das Haus zerstören,
Weit die Wogen es entführen.“
Da erhob des Meeres Mutter,
Sie, der Lüfte schöne Tochter
Aus dem Meere ihre Kniee,
Aus der Fluth die Schulterblätter,
Wo die Ent’ ein Nest sich bauen,
200 Wo sie friedlich weilen könnte.
Entlein nun der schöne Vogel
Flieget langsam, schauet um sich,
Sieht das Knie der Wassermutter
Auf dem blauen Meeresrücken,
Hielt’s für einen Wiesenhügel,
Meint’es wäre frischer Rasen.
     Hin nun fliegt sie, schwebet langsam,
Läßt sich auf das Knie dann nieder;
Bauet dort ihr Nestlein fertig,
210 Legt hinein die goldnen Eier,
Goldner Eier ganze sechse,
Siebentens ein Ei von Eisen.

Setzt sich brütend auf die Eier,
Wärmte rasch des Kniees Wölbung;
Brütet einen Tag, den zweiten,
Brütet auch am dritten Tage;
Schon bemerkt die Wassermutter,
Sie, der Lüfte schöne Tochter,
Merket, daß es heißer wurde,
220 Daß die Haut erwärmet wurde:
Meinte, daß die Knie ihr brennen,
Alle Adern ihr zerschmelzen.
Hastig rührt sie ihre Kniee,
Schüttelt heftig ihre Glieder,
Daß die Eier in das Wasser,
In die Fluth des Meeres stürzen;
In der Fluth in Stücke brechen
Und in Splitter sich zerschlagen.
Nicht verkommen sie im Schlamme,
230 Nicht die Stücke in dem Wasser,
Sondern werden schön verwandelt, 
Schön gestaltet alle Splitter:
Aus des Eies untrer Hälfte
Wird die niedre Erdenwölbung,
Aus des Eies obrer Hälfte
Wird des hohen Himmels Bogen;
Was sich Gelbes oben findet,
Strahlet schön als liebe Sonne,
Was sich Weißes oben findet,
240 Leuchtet hold als Mond am Himmel;
Von dem Hellen in dem Eie
Werden Sterne an dem Himmel,
Von dem Dunkeln in dem Eie
Wird Gewölke in den Lüften.

Und die Zeiten schwinden rascher,
Immer fort und fort die Jahre
Bei der jungen Sonne Leuchten,
Bei des jungen Mondes Glanze;
Immer schwamm die Wassermutter,
250 Sie, der Lüfte schöne Tochter,
In den schlummerstillen Wellen,
Auf der nebelreichen Fläche,
Vor sich hatte sie die Fluthen,
Hinter sich den hellen Himmel.
Endlich in dem neunten Jahre,
Zu der Zeit des zehnten Sommers
Hebt ihr Haupt sie aus dem Meere,
Ihre Stirn sie aus dem Wogen,
Jetzt beginnt bei ihr das Schaffen,
260 Fängt sie an hervorzubringen
Auf dem klaren Meeresrücken,
Auf den weiten Wogenflächen.
Wo die Hand nur hin sie wandte,
Da entstanden Landesspitzen,
Wo sie mit dem Fuße ruhte,
Grub gar rasch sie Fischesgruben;
Wo ins Wasser sie sich tauchte,
Senkten sich des Meeres Tiefen.
Wo die Hüfte hin sie wandte,
270 Da erschienen ebne Ufer,
Wo den Fuß zum Land sie lenkte,
Da entstanden Lachsesschluchten,
Wo der Kopf dem Lande nahte,
Da erwuchsen breite Buchten.
Schwamm noch weiter von dem Lande,
Ruht’ ein wenig auf dem Rücken,
Schuf so Klippen in dem Meere,
Riffe, die dem Aug’ verborgen,
Wo die Schiffe oft zerschellen,
280 Wo der Männer Leben endet.

Schon geschaffen waren Inseln,
Klippen in dem Meer begründet,
Festgestellt der Lüfte Pfeiler,
Flur und Felder schon geschaffen,
Bunt die Steine schon gesprenkelt,
Schön gefurchet schon die Felsen,
Wäinämöinen nur der Sänger
War und blieb noch ungeboren.
Wäinämöinen alt und wahrhaft
290 Wandert noch im Leib der Mutter
Dreißig Sommer nach einander,
Eine gleiche Zahl von Wintern
In den Wellen voller Ruhe,
Auf der weichen Wogenfläche.
Dachte nach und überlegte,
Wie zu sein und wie zu leben
In dem nimmerhellen Raume,
In der unbequemen Enge,
Wo er nicht das Mondlicht schaute,
300 Nicht den Sonnenschein gewahrte.
Sprach darauf mit diesen Worten,
Ließ auf diese Art sich hören:
„Bring, o Mond, und bring, o Sonne,
Bringe mich, o Bär am Himmel,
Von den ungewohnten Thüren,
Von den unbekannten Pforten,
Hier aus diesem kleinen Neste,
Aus dem engen Aufenthalte!
Daß ich auf der Erde wandre,
310 Wie ein Menschenkind im Freien,
Daß des Himmels Mond ich schaue,
Daß die Sonne ich gewahre,
Daß den Bären ich erblicke,
Daß die Sterne ich betrachte!“
Da der Mond ihn nicht befreiet, 
Nicht die Sonne ihn erlöset,
Wird das Sein ihm unbehaglich,
Ihm das Leben dort verdrießlich;
Sprengt der Feste schmale Pforte
320 Mit dem Finger ohne Namen,
Schlüpfet durch das Schloß, das starre,
Mit des linken Fußes Zehe,
Kriechet mit der Hand zur Schwelle,
Auf den Knieen durch das Vorhaus.
Stürzte häuptlings in das Wasser,
Wendet mit der Hand die Wogen;
Also blieb der Mann im Meere,
So der Held im Naß der Wogen.
Ruht’ im Meere fünf der Jahre,
330 Fünf der Jahre, ja gar sechse,
Selbst das siebente und achte;
Endlich hält er auf dem Meere,
An der Landzung’ ohne Namen,
An dem baumberaubten Strande.
Rafft sich auf den Knien zum Lande,
Wendet mit der Hand sich hastig,
Hebt sich um den Mond zu schauen,
Um die Sonne zu gewahren,
Um den Bären zu erblicken,
340 Um die Sterne zu betrachten.
Also wurde Wäinämöinen,
Dieser kräft’ge Zaubersprecher,
Von der Lüfte schöner Tochter,
Die ihm Mutter war, geboren.

https://de.wikisource.org/wiki/Kalewala,_das_National-Epos_der_Finnen/Erste_Rune


Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Schöpfungsmythen der Aborigines/Australien

Wie das Land entstand  Zu Anbeginn gab es nur das große Salzwasser. Aus den Tiefen stieg Ungud, die Regenbogenschlange, empor. Steil richtete sie sich auf und warf ihren Bumerang in einem weiten Umkreis über das Meer. Mehrmals berührte der Bumerang auf seinem Flug die Fläche des Salzwassers, und dort schäumte das Wasser auf, und glattes, ebenes Land kam zum Vorschein. Ungud wanderte über dieses neue, weiche Land und legte viele Eier, aus denen neue Urzeitwesen schlüpften. Es waren die Wondjina, und sie wanderten in alle Richtungen. Wie die ersten Männer entstanden Vor langer Zeit schuf Pund-jel der große Schöpfergeist alle Dinge auf der Erde und alle Lebewesen, außer den Frauen. Er trug ein großes Steinmesser bei sich, und als er die Erde schuf, zerschnitt er sie an vielen Stellen, so dass Berge, Täler und Wasserläufe entstanden. Dann schnitt er mit seinem Messer drei größere Rindenstücke. Auf das erste legte er feuchten Ton, den er so lange bearbeitete, bis er glatt

Schöpfungsmythen der Maori (Neuseeland)

Schöpfungsmythos der Maori (Neuseeland) Die Geschichte „der Söhne des Himmels und der Erde.“ Die Himmel, die über uns sind, und die Erde, die unter uns liegt, sind die Erzeuger der Menschen und der Ursprung aller Dinge. Denn früher lagen die Himmel auf der Erde, und alles war Finsternis. Nie waren sie getrennt gewesen. Und die Kinder des Himmels und der Erde suchten den Unterschied zwischen Licht und Finsternis zu entdecken —  zwischen Tag und Nacht; denn die Menschen waren zahlreich geworden; aber die Finsternis währte noch fort. Im Andenken an diese Zeit sagt man: „während der Nacht“, „die erste Nacht“, „von der ersten bis zur zehnten Nacht, von der zehnten bis zur hundertsten, von der hundertsten bis zur tausendsten“ — , was bedeuten soll, dass die Finsternis ohne Grenzen und das Licht noch nicht vorhanden gewesen war. So ratschlagten die Söhne Kangi’s (des Himmels) und Papa’s (der Erde) miteinander und sprachen: „Lasset uns Mittel suchen, um Himmel un

Alteuropa - Überblick

Pleistozän Steinzeit Altsteinzeit Altpaläolithikum Mittelpaläolithikum Jungpaläolithikum Holozän Mittelsteinzeit Jungsteinzeit Kupfersteinzeit Bronzezeit Frühe Bronzezeit Mittlere Bronzezeit Späte Bronzezeit Eisenzeit Historische Zeit Pleistozän Das Pleistozän ist ein Zeitabschnitt in der Erdgeschichte. Es begann vor etwa 2,588 Millionen Jahren und endete um 9.660 ± 40 Jahre v.u.Z. mit dem Beginn der Holozän-Serie, der Jetztzeit. Somit dauerte das Pleistozän etwa 2,5 Millionen Jahre. http://de.wikipedia.org/wiki/Pleistoz%C3%A4n V Steinzeit Pleistozän - Altsteinzeit (Altpaläolithikum, Mittelpaläolithikum, Jungpaläolithikum), Holozän - Mittelsteinzeit, Jungsteinzeit, Kupfersteinzeit Als Steinzeit bezeichnet man den Zeitabschnitt der Menschheitsgeschichte, von dem angenommen wird, dass die damaligen Menschen als Werkstoff vorrangig Stein verwendeten (neben Holz, Knochen und Horn). Sie begann vor 2,6 Millionen Jahren und endete, als die Menschen seit dem 7. Jahrtause