Der Vogel Anzu, halb Löwe, halb Adler, war mindestens seit dem dritten Jahrtausend v.u.Z.. eine wichtige Stütze der Keilschriftkultur. In der sumerischen Literatur erscheint er als wildes Geschöpf der Berge. Er kann auch von den Göttern gezähmt werden, wie es in monumentalen Skulpturen dargestellt ist. Im Kalhu des 9. Jahrhunderts wurde er im Kampf mit dem Kriegergott Ninurta dargestellt, und zwar an einem Eingang zum wichtigsten Heiligtum der königlichen Zitadelle.
Die Tür zu Raum B war auf beiden Seiten mit spiegelbildlichen Darstellungen derselben außergewöhnlichen Szene gesäumt (Bild). Eine hoch aufragende männliche Gestalt in einem langen Gewand stürzt sich auf eine monströse Kreatur, halb Löwe, halb Adler, die sich mit offenem Mund und ausgestreckten Krallen zu ihm umdreht. Der bärtige Mann ist mit seinem gehörnten Helm und den doppelten Flügeln als Gott zu erkennen. Seine Muskeln sind prall und er ist mit Waffen beladen. An seinem Körper hängen eine Sichel und ein Schwert in der Scheide, während er in jeder Hand einen gegabelten Blitz ergreift. Dies kann nur der Höhepunkt im Epos von Anzu sein, wo Ninurta diese dämonische Macht des Chaos mit List besiegt und die Tafel der Schicksale für die Götter zurückfordert.
Das Bild von Ninurta, der Anzu aus seinem Tempel verjagt, verbindet auf eindrucksvolle Weise die militaristischen Ideale des assyrischen Königtums mit der Bedeutung der Gelehrsamkeit. Einerseits muss Ninurta sowohl Intelligenz als auch rohe Gewalt einsetzen, um den bösen Anzu zu besiegen. Andererseits muss er die Schicksalstafel wiederfinden, in der die Entscheidungen der Götter über die Zukunft Assyriens festgehalten sind. Hofgelehrte berieten den assyrischen König bei seinen militärischen Entscheidungen, indem sie die Götter durch verschiedene Formen der Wahrsagerei nach ihren Absichten befragten. Assyrien zog nur mit dem Segen der Götter in den Krieg, und der Sieg war in der Schicksalstafel verbürgt. In assyrischen Königsinschriften wurde die Rolle der gelehrten Weissagung bei der Vorhersage göttlicher Unterstützung und der Erzielung militärischer Erfolge zunehmend anerkannt.
Assurnasirpal II. gab Anfang des neunten Jahrhunderts v.u.Z. den Bau von Ninurtas Heiligtum in Auftrag. Als der königliche Hof im späten achten und frühen siebten Jahrhundert v.u.Z. nach Dur-Šarruken und später nach Ninive verlegt wurde, verlor Ninurta bereits die königliche Schirmherrschaft zugunsten von Nabu. Nun, da sich das Reich stabilisiert hatte, war Gelehrsamkeit mehr in Mode als Militarismus. Dennoch überlebte Ninurtas Tempel fast 200 Jahre königlicher Vernachlässigung, und die Zwillingsdenkmäler für seinen Sieg über Anzu blieben stehen, bis die Tempel von Kalhu am Ende des Reiches im Jahr 612 v.u.Z. von Eindringlingen geplündert wurden.
Ende des 19. Jhr. wurde das Relief als Kampf zwischen " Merodach (Bel) und dem Drachen (Tiamat)" verstanden. Es sollte noch einige Jahrzehnte dauern, bis die drei Ungeheuer - Anzu, Tiamat und Marduks mušhuššu-Drache - auseinandergehalten wurden. Die Identität des Ungeheuers als "Anzu" und nicht als "der Gott Zu" setzte sich in den 1960er und 70er Jahren allmählich durch, als klar wurde, dass das erste Keilschriftzeichen des Namens die Silbe "an" und nicht das (visuell identische) göttliche Zeichen DINGIR sein muss.
Nimrud: Materialities of Assyrian Knowledge Production - Anzu the monstrous lion-eagle (upenn.edu)
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