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Medizinische Enzyklopädie von Ninive

 

In Mesopotamien bestand die Medizin hauptsächlich aus pflanzlichen Heilmitteln - Pflanzen wurden einzeln oder in Kombination äußerlich als Verbände oder Salben aufgetragen und innerlich in Form von Heiltränken oder Einläufen eingenommen. Um 2000 v.u.Z. begannen die Heiler bereits, die medizinische Praxis schriftlich festzuhalten. Die frühen medizinischen Texte wurden von späteren Generationen wiederverwendet, erweitert und weiter ausgearbeitet. Diese lange Tradition erreichte ihren Höhepunkt im 7. Jahrhundert v.u.Z.. Zu dieser Zeit gab es nur einen einzigen Ort, an dem ein so umfangreiches medizinisches Handbuch verfasst werden konnte - in der Bibliothek des assyrischen Königs Aschurbanipal. Fasziniert von allen Arten wissenschaftlicher Tätigkeit, wollte Aschurbanipal eine Bibliothek schaffen, die alles Wissen enthalten sollte. Er beauftragte Spezialisten damit, medizinische Texte aus dem ganzen Reich zu sammeln und dieses Material in seine Hauptstadt Ninive zu bringen. Dort sollten Schreiber etwas erstellen, das alles bisher Dagewesene weit übertraf. Dieses medizinische Wörterbuch, das heute als "Medizinische Enzyklopädie von Ninive" bezeichnet wird, ist das weltweit erste standardisierte, strukturierte und systematisierte Handbuch zur therapeutischen Medizin.

Die Enzyklopädie ist eine stark strukturierte Darstellung des medizinischen und therapeutischen Wissens, die aus 12 Abschnitten besteht. Sie geht vom Kopf bis zu den Füßen, wobei sich jeder Abschnitt auf die Krankheiten eines bestimmten Teils des menschlichen Körpers konzentriert. Fast alle 12 Abschnitte bestehen aus mehr als einer "Tafel" und insgesamt gibt es 50 Tafeln. Jede Tafel enthielt mindestens 250 Zeilen, insgesamt also mehr als 10 000 Zeilen Text. Am Ende jeder Tafel befand sich ein Vermerk des Schreibers, der den Platz der jeweiligen Tafel in der Reihe erklärte. 

Der erste Abschnitt befasst sich mit den Krankheiten des Kopfes. Die fünf Tafeln enthalten Therapien für eine Vielzahl von Krankheiten, die entweder den Kopf im Allgemeinen oder einen bestimmten Teil des Kopfes betreffen, wie Kopfhaut, Augen, Ohren und Nase. Danach folgen Abhandlungen, in denen die Behandlung von Problemen mit bestimmten Teilen des Kopfes detaillierter behandelt wird: Augen (vier Tafeln), Ohren (eine Tafel), Hals (sechs Tafeln), Nase (eine Tafel) und Zähne (zwei Tafeln). Nach dem Kopf wendet sich die Enzyklopädie den übrigen Körperteilen zu, angefangen beim Rumpf über die Beine bis hin zu den Füßen.

Es gab zwei Haupttypen von Spezialisten. Einer von ihnen, der asû ("Arzt"), funktionierte wie die heutigen Ärzte. Sie behandelten die körperlichen Symptome mit Hilfe von Heilpflanzen und -flüssigkeiten. Die andere Art von Spezialisten, der āšipu ("Exorzist" oder "Beschwörungspriester"), lässt sich in modernen Begriffen am besten als "alternativer Heiler" beschreiben. Sie setzten magische Zaubersprüche und Rituale ein, um den übernatürlichen Einfluss zu beenden, der hinter der körperlichen Manifestation des Leidens steht. Es gab keine offiziellen Kliniken, und die Behandlungen fanden wahrscheinlich in den Häusern der Patienten statt.

Aschurbanipals Tafeln wurden bei der Plünderung von Ninive im Jahr 612 v. Chr. in Stücke gerissen. Die mühsame Aufgabe, sie wieder zusammenzusetzen, beschäftigt Spezialisten noch 170 Jahre nach ihrer Entdeckung.


Den Wirbelwind loslassen

Manchmal war es sehr schwierig, eine zuverlässige Diagnose zu stellen. In Mesopotamien galt dies vor allem für Krankheiten, die das Innere des Körpers betrafen. Da es keine chirurgischen Eingriffe gab, mussten die Ärzte raten, was los sein könnte. Sie entwickelten Theorien, die auf Analogien aus ihrer Umgebung beruhten. In einem medizinischen Zauberspruch, der gegen eine Verengung des Magen-Darm-Trakts eingesetzt wird, ist von winzigen Wesen die Rede. Der Arzt schickt diese Wesen zum "Kanalinspektor", der im Magen des Patienten lebt, und beauftragt sie, die verstopften Gänge freizulegen, so wie ein Arbeiter einen Kanal ausheben würde.

"Womit sind deine Eingeweide gefüllt? Womit sind deine Eingeweide gefüllt? [. . .]. Wen soll ich zum Kanalinspektor deiner Eingeweide schicken? Mögen sie Schaufeln aus Silber und Spaten aus Gold tragen! Mögen sie die Wasserwege auftun! Mögen sie die Kanäle öffnen, damit seine Exkremente entweichen und herauskommen können, damit der Wirbelwind in seinen Eingeweiden herauskommen und die Sonne sehen kann."


Bild: Eine Tafel aus der medizinischen Enzyklopädie von Ninive. Abhandlung VIII Magen. K 71b. Copyright Trustees of the British Museum. CC BY-NC-SA 4.0





Text: Ancient healthcare fit for a king | British Museum
Bild: SM.1491 BM tablet | British Museum

oracc: The Nineveh Medical Project - NinMed: Medicine fit for a king (upenn.edu)

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