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Der Umgang mit streitenden Schülern in dem Edubba’a



aus:
Der Umgang mit streitenden Schülern in dem Edubba’a nach den sumerischen Schulstreitgesprächen Enkiḫeĝal und Enkitalu und Ĝirinisa und Enkimanšum - Manuel Ceccarelli


In den Schulstreitgesprächen streiten jeweils zwei Schüler miteinander und jeder versucht zu zeigen, dass er der bessere Schüler ist. Sie wurden von den Schulmeistern als didaktische Mittel konzipiert, damit die Schüler die sumerische Umgangssprache einüben und bestimmte Normen und Wertvorstellungen verinnerlichen konnten. Die richtige Verhaltensweise wird nicht nur durch positive Aussagen veranschaulicht („ich kann x“), sie lässt sich oft aus dem stigmatisierten Verhalten des Kontrahenten rückschließen. Ein Schüler sollte zum Beispiel nicht arbeitsscheu, sondern strebsam sein, er sollte nicht prahlen, sondern Mäßigung zeigen, er sollte zuverlässig sein und nicht die Zeit vertrödeln. Ebenso sollte er nicht faul, sondern anständig sein, und statt Leute gegeneinander aufzuhetzen, sollte er sie versöhnen.  Als Vorbild für die jeweiligen Schulstreitgespräche diente das Alltagsleben in der und um die Schule. Die Streitgründe entsprechen Begebenheiten, die noch heute in der Schule leicht zu erleben sind, wie Verunglimpfungen und Beleidigungen eines Schülers gegenüber einem Mitschüler (vgl. Enkiḫeĝal und Enkitalu) oder der Anspruch, Klassenbester sein zu wollen (vgl.
 Ĝirinisa und Enkimanšum). Es ist gewiss kein Zufall, dass ähnliche Szenen aus dem Schulleben auch in den lateinischen Dialogen des Spätmittelalters und der Renaissance dargestellt werden.
Auch am Ende spiegeln die Kompositionen offensichtlich Begebenheiten des Schulalltags wider. In
 Enkiḫeĝal und Enkitalu und Ĝirinisa und Enkimanšum wird geschildert, dass die Schuloberen (Meister bzw. der Aufseher) als Schiedsinstanz angerufen werden, um den Streit zu beenden. Schließlich ergreifen sie Maßnahmen, um Schüler in Zukunft von heftigen Streiten abzuhalten. Bei den Schulstreitgesprächen handelt es sich also um einen formellen Rahmen (Einleitung (casus litigandi)
– Streit – Schluss (Konsequenzen))


"Zwei Schreiber": 
„Schüler, es wird spät, komm her! Na los, lass uns wetteifern!“


"Streit zweier Frauen B:
(Frau A) „Wo kommst du her?“
(Frau B) „Du sollst mit mir nicht streiten, zumal deine Schlagkraft mir zu gering ist.“
(Frau A) „Warum sollte ich nicht mit dir streiten? Was habe ich dir getan?“


Das Debattieren über eigene Fähigkeiten könnte von den Schulmeistern gezielt eingesetzt worden sein, damit die Schüler sowohl eine fließende Konversation in sumerischer Sprache als auch den Gebrauch von Alltagswörtern einüben konnten. Darüber hinaus konnten die Meister dadurch den Ehrgeiz eines jeden Schülers, seine Kommilitonen zu übertreffen, fördern.

Enkiḫeĝal und Enkitalu:
Miguel Civil hat vorgeschlagen, dass es sich bei den beiden um Musiker handelt und in diesem Schulstreitgespräch deutet vieles darauf hin, dass Enkitalu und Enkiḫeĝal tatsächlich eine musikalische Ausbildung absolvieren. So versuchen beide Streitenden, die musikalischen Fertigkeiten des Kontrahenten herabzuwürdigen; erwähnt werden das Spielen der Lyra, das Singen bestimmter Hymnen und Lieder, die Schönheit des Tremolo, die Aussprache des Sumerischen, die Grazie der Stimme und die Tatsache, ein guter Sänger zu sein.
Enkitalu habe, so die Anschuldigung, eine dritte, unbenannte Person verunglimpft. Aber er bestreitet dies und gerät daraufhin mit Enkiḫeĝal in eine Auseinandersetzung. Um den Streit zu schlichten, wenden sich die zwei an einen ‚großen Bruder‘, der mit dem Fall jedoch überfordert ist und einen Aufseher (ugula) hinzuzieht. Dieser wird schließlich Enkitalu entlasten und eine Maßnahme ergreifen, damit solche Streitigkeiten nicht mehr am ,Ort(der)Gelehrsamkeit‘ (ki umum) ausgetragen werden.

Ĝirinisa und Enkimanšum:
Der casus litigandi ist hier der Anspruch auf die Position des ses-gal, des „Großen Bruders“, d.h. des erfahrenen Schreibergesellen, und die ihm übertragene Befugnis, Anweisungen zu erteilen. Enkimanšum macht dem älteren Schüler Ĝirinisa seine Rolle als ses-gal streitig, dabei eskaliert der Streit so sehr, dass zuerst ein Aufseher und dann ein Meister eingreifen müssen.

Beide Werke ermöglichen einen Blick auf den Umgang mit streitenden Schülern und auf die Anwendung der Prügelstrafe als Disziplinarmaßnahme im Edubba’a. Die Schüler konnten sowohl wegen Verstößen gegen die Schuldisziplin als auch wegen mangelhafter Leistungen geschlagen werden. Auf der Straße umhergaffen, ohne Erlaubnis reden, aufstehen, aus dem Raum gehen, Akkadisch bzw. undeutlich Sumerisch sprechen sowie schreiben mit einer miserablen Handschrift und die Hausaufgabe nicht vorlesen können wurden von den zuständigen Aufsehern bzw. Meistern mit Schlägen bestraft.

Es gab aber auch Alternativen zur strengen Züchtigung, denn auf den Verzicht von Schlägen wird bereits im Rat des Šuruppag verwiesen:
„Die Söhne eines Bauers sollst du nicht schlagen. Sie haben nämlich deine Deiche und Bewässerungsgräben festgestampft.“

Durch die Bearbeitung der sumerischen Schulsatire "Der Vater und sein missratener Sohn" von Åke Sjöberg und durch die Untersuchungen zu den mesopotamischen Erziehungsmethoden von Konrad Volk und Claus Wilcke wurde deutlich, dass die bewusste Ablehnung von Körperstrafen als Erziehungsmaßnahmen auch in altbabylonischer Zeit belegt ist. So erfahren wir aus "Der Vater und sein missratener Sohn", dass ein Vater die Wirkungslosigkeit von Schlägen erkannte und deswegen aufhörte, seinen Sohn zu schlagen, der nicht Schreiber, sondern lieber Musiker werden wollte. So sagt der Vater zu seinem Sohn:
62 „(Dich) zu schlagen (und nochmals) zu schlagen, grämte mich nur. So habe ich dir freien Lauf gelassen.“

Enkiḫeĝal und Enkitalu und zum Teil auch Ĝirinisa und Enkimanšum zeigen ein etwas differenzierteres Bild hinsichtlich des Umgangs mit Verstößen gegen die Schuldisziplin. Es scheint, dass eine Strafe sowohl dem Schüler Enkimanšum als auch dem Großen Bruder Ĝirinisa droht, dem ersten, weil er anmaßend war, dem zweiten, weil er wütend reagiert hat.

Das Strafmaß:
"nach dem man ihn mit dem dubdim-Stock mit 60 Stock(schlägen) geschlagen hat
und nachdem man kupferne Fesseln an seine Füße angelegt hat,
im Haus umherlaufen und für 2(/3) Monate aus dem Edubba’a nicht hinausgehen"


Im Gegensatz zu Ĝirinisa und Enkimanš um wird in Enkiḫeĝal und Enkitalu keine derartig brutale Strafe erwähnt:
"Demjenigen, der dir gegenüber (Dinge) auf beleidigende Weise erzählt, soll seine Schuld auferlegt werden!"

Der Aufseher schätzt die Praxis des Schlagens als Disziplinarmaßnahme aber als nutzlos ein:
„Warum wart ihr heute den ganzen Tag in Streit verwickelt?
Nun, was habe ich mit dem Schlagen erreicht?“

Es muss festgehalten werden, dass in den vorherigen Zeilen weder Enkitalu noch Enkiḫeĝal geschlagen worden sind. Die Aussage ist also vor dem Hintergrund der in der Schule allgemein angewendeten Prügelstrafen zu verstehen. Der springende Punkt ist, dass der Aufseher die Nützlichkeit des Schlagens in Frage stellt.

Hervorzuheben ist die Aussage in Ĝirinisa und Enkimanšum, dass der ,Bruder‘ dem ,Bruder‘ gegenüber nicht respektlos sein und nicht prahlen dürfe. Da aus dem Streit eindeutig hervorgeht, dass Enkimanšum und Ĝirinisa keine leiblichen Brüder sind, wird hier wohl ein ideeller  Umgang der Schüler miteinander angedeutet. Im Hintergrund dürfte die Selbstauffassung der Schreiber stehen, eine geschlossene, die eigene Kultur tragende Gemeinschaft zu bilden, die sich von anderen Zünften deutlich abhebt. 



Enkiḫeĝal und Enkitalu:
CDLI-Archival View (ucla.edu)




Enkimanšum und Ĝirinisa
CDLI-Archival View (ucla.edu)





Text:



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