aus: Réka Esztári and Ádám Vér: "The Voices of Ištar - Prophetesses and Female Ecstatics in the Neo-Assyrian Empire"
Zur Zeit des neuassyrischen Reiches (912-612 v.u.Z.) blickte die professionelle Tätigkeit von Prophetinnen und Ekstatikerinnen auf eine tausendjährige Tradition im Alten Orient zurück. Berichte über ihre Prophezeiungen lassen sich bereits zu Beginn des zweiten Jahrtausends v.u.Z. in Briefen nachweisen, die aus der Stadt Mari stammen. Die meisten Texte aus Mari wurden in den Archiven des Königspalastes gefunden und lassen sich ungefähr auf das letzte Jahrzehnt der Herrschaft von Zimrī-Lîm, dem letzten König des unabhängigen Königreichs Mari (ca. 1777-1761 v.u.Z.), datieren.
In diesen Texten war die gebräuchlichste Bezeichnung für einen professionellen Propheten āpilum / āpiltum (fem.), abgeleitet von dem Verb apālu(m), was "antworten" bedeutet - sie wurden also in erster Linie als "Antwortgeber" bezeichnet. Die anderen gebräuchlichen Bezeichnungen waren muhhûm und sein weibliches Gegenstück muhhūtum. Diese Titel leiten sich von dem Verb mahû(m), ab, das wörtlich "verrückt werden, in einen Rausch geraten" bedeutet. Sie beziehen sich also auf jemanden, der einen veränderten Bewusstseinszustand erreicht hat, in dem er oder sie göttliche Botschaften empfängt und weitergibt - mit anderen Worten, die letzteren waren die Bezeichnungen für diejenigen, die wir als "ekstatische Propheten" bezeichnen könnten.
Der Textkorpus der neuassyrischen Prophezeiungen stammt aus der Regierungszeit der Könige Asarhaddon (681-669 v.u.Z.) und seines Sohnes und Nachfolgers Assurbanipal (668-631 v.u.Z.). Im Gegensatz zu den bereits erwähnten Prophetenbriefen aus dem altbabylonischen Mari sind die meisten erhaltenen neuassyrischen Prophezeiungen nicht in Briefform, sondern in Form von Orakelsammlungen überliefert, die zwar auch die Namen der orakelgebenden Propheten bzw. Prophetinnen und deren Herkunftsstadt enthalten, aber keine expliziten Hinweise auf die jeweiligen historischen Umstände. Das gängige Wort für "Prophet" in der neuassyrischen Zeit war raggimu /raggintu (fem.), was wörtlich "Ausrufer" oder "Verkünder" bedeutet. Die älteren Begriffe mahhû /mahhūtu (fem.) waren zwar immer noch in Gebrauch, aber nur in literarischen Texten.
Die Propheten und Prophetinnen waren sowohl im altbabylonischen Mari als auch in neuassyrischer Zeit kultische Funktionäre und ständige Mitglieder bestimmter Tempelgemeinschaften. Wahrscheinlich waren sie auch in bestimmten Tempeln untergebracht, die wohl in den meisten Fällen der Göttin Inanna/Ištar geweiht waren. Bereits in mittelassyrischer Zeit traten die Propheten und Prophetinnen als kultische Verehrer Ištars auf, und in neuassyrischer Zeit dienten die meisten von ihnen im Ištar-Tempel in Arbela (dem heutigen Erbil), der das wichtigste Zentrum der neuassyrischen Prophetie war.
Der Inanna/Ištar-Kult erfreute sich über etwa drei Jahrtausende hinweg großer Beliebtheit. Als Göttin der Liebe und des Krieges verkörperte sie in sich selbst Polaritäten und Gegensätze. Sie konnte als das schönste weibliche Wesen und als Verführerin beschrieben werden, während andere Texte immer wieder ihren Blutdurst und ihre Liebe zu Kampf und Blutvergießen betonen. Zudem wurde sie als der Planet Venus gesehen und verehrt, der am Morgen- bzw. am Abendhimmel leuchtet. Als Morgenstern war die Venus weiblich, aber als Abendstern nimmt sie einen männlichen Aspekt an, und dieser letztere wird als männliche Ištar beschrieben und oft sogar als bärtig dargestellt. In einer Hymne der Göttin Nanaya, in der sie die Gestalt von Ištar annimmt, heißt es beispielsweise: "In Babylon bin ich bärtig". Eine spätere Hymne des Königs Assurbanipal besagt, dass Ištar "wie der Gott Aššur einen Bart hat". Auch auf einem Zylindersiegel aus dem 3. Jahrtausend v.u.Z. scheint Inana/Ištar als Frau mit männlichen Geschlechtsmerkmalen, Bart und voll bewaffnet dargestellt zu sein. Die psychologische Androgynität der Göttin manifestieren sich auch in der zweifelhaften sexuellen Identität und der daraus resultierenden zweideutigen Geschlechterrolle ihrer Verehrer, die "in Frauen verwandelte Männer" waren. So heißt es in einer Passage der sumerischen Hymne In-nin-ša3-gur 4-ra bzw. Inanna-C:
"Einen Mann in eine Frau und eine Frau in einen Mann zu verwandeln, ist dein, Inanna"
CDLI: P476194
Old Babylonian (ca. 1900-1600 BC)
CDLI-Archival View (ucla.edu)
Dies ermöglichte ihren männlichen Verehrern, sich mit der Göttin auf einer Ebene zu vereinen, die kein gewöhnlicher Mann hätte erreichen können, und deshalb legten sie womöglich ihre ursprüngliche männliche Identität ab. Es lässt sich jedoch nicht feststellen, ob es sich um Eunuchen oder (zumindest in einigen Fällen) um Hermaphroditen oder einfach um Transvestiten. Oft werden sie aber als "Ritualdarsteller" (assinnu) bezeichnet und waren die nächsten "Kollegen" der Propheten, da ihre Titel nicht nur in Rationslisten, sondern auch in der lexikalischen Überlieferung regelmäßig gemeinsam auftauchen, was darauf hindeutet, dass sie in gewisser Hinsicht als ähnlich angesehen wurden. Eine der aufschlussreichsten Quellen für die Eigenschaften und Funktionen dieses besonderen Kultpersonals ist die Inanna-Dilibad (Venus) Hymne, auch bekannt als Iddin-Dagan A:
45 Ihre Haarlocken am Rücken sind für sie mit farbigen Bändern geschmückt; sie gehen vor ihr, der heiligen Inanna. Die physischen Merkmale der Göttlichkeit sind in ihrem Körper präsent,
50 (während) sie vor ihr, der heiligen Inanna, gehen.
60 Gekleidet mit der Kleidung des Mannes auf der rechten Seite, schreiten sie vor ihr, heilige Inanna.
Ich werde die große Dame des Himmels grüßen, Inanna!
Gekleidet mit der Kleidung der Frau auf der linken Seite, schreiten sie vor ihr, heilige Inanna!
65 Ich werde die große Dame des Himmels grüßen, Inanna!
76 ... Diejenigen, die ihre Schwerter mit Blut bedecken, verspritzen Blut, während sie vor ihr hergehen, der heiligen Inanna.
80 Blut wird auf das Podium des Thronsaals gegossen, während Tigi, šem und Ala-Trommeln laut erklingen
Die Zeilen 76-80 werden oft als Hinweis auf rituelle Selbstverstümmelung oder sogar Selbstkastration gesehen, die begleitet von Trommeln an einen ekstatischen Rausch erinnern.
Iddin-Dagan A
CDLI P259248
CDLI-Archival View (ucla.edu)
So ist auch kein Zufall, dass es im sumerischen Mythos von Inannas Abstieg in die Unterwelt Zwitterwesen sind, die schließlich das Leben ihrer Göttin retten, weil sie als einzige unter den Göttern und Menschen in der Lage sind, die Tore der Unterwelt zu durchschreiten (ohne bemerkt zu werden), und auch aus dem Land ohne Wiederkehr zurückkehren können. Im neuassyrischen Korpus finden sich einige wenige, die mit mit einer "zweideutigen" Geschlechterrolle angegeben werden, welche also bspw. männliche Namen haben, aber mit weiblichen Determinativen erscheinen. Demnach ist die gängige Annahme, dass die Propheten von Ištar in neuassyrischer Zeit ihrem Namen nach überwiegend Frauen waren, womöglich falsch.
Prophetische Botschaften im altbabylonischen Mari wurden dem König in Form von Briefen übermittelt, und in dieser offiziellen Kommunikation unterlagen sie, im Gegensatz zu anderen Arten der Wahrsagung, der Überprüfung durch technische Wahrsagung (normalerweise durch Extispizie), waren also eher zweitrangig zu sehen. Auch in Assyrien des ersten Jahrtausends nahmen die prophetischen Orakel, welche verbal vorgetragen wurden, im Vergleich zu den Arbeiten der Hofgelehrten eine zweitrangige Stellung ein. Demnach waren die assyrischen Propheten, soweit wir das aus unseren Quellen beurteilen können, meist weniger gebildet und mussten ihre Orakel von gelehrteren Schreibern aufzeichnen (oder gar interpretieren) lassen. Im Gegensatz zu den Prophezeiungen beruht die Zuverlässigkeit der technischen oder induktiven Weissagung auf einer schriftlichen, technischen Überlieferung, die durch eine von den Gelehrten über Jahrhunderte hinweg überlieferte Tradition Anerkennung fand und nach ihrer gelehrten Überlieferung aus uralten Zeiten überliefert wurde.
Die Texte aus der Regierungszeit der beiden letzten großen assyrischen Monarchen (Esarhaddon und Assurbanipal) tendieren jedoch dazu, ein anderes Verhältnis darzustellen. Die Prophezeiung und die technischen Wahrsageverfahren genossen in den Augen der neuassyrischen Herrscher offenbar den gleichen Stellenwert, und es gibt keine Anzeichen für eine Konkurrenz zwischen den Experten der intuitiven und der induktiven Wahrsagung.
Die Tatsache, dass prophetische Botschaften manchmal als verdächtig angesehen wurden und sich auch als falsch erwiesen, geht aus Quellen wie dem Erbfolgevertrag von Esarhaddon hervor, in dem es heißt:
Jedes falsche Wort, das aus dem Mund von Propheten, Ekstatikern oder Orakelsuchern gehört wurde, sollte vom König nicht verschwiegen werden (SAA2 6 §10, 116-117).
Eine Prophezeiung gegen den König konnte also als Verschwörung der Untertanen gedeutet werden.
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Mari (altbabylonisch)
Das königliche Archiv von Mari enthält mehr als 70 Texte, die sich auf Prophezeiungen beziehen - eine relativ große Zahl. In Mari werden zwei Titel eng mit der Prophetie in Verbindung gebracht: apilum/āpiltum, welches professionelle Prophet/Prophetinnen waren, und die muhhūm/muhhūtum, welches Ekstatiker/Ekstatikerinnen waren, die manchmal auch prophezeiten.
Es gibt vier einzelne männliche muhhum und zwei einzelne weibliche muhhutum in den Mari-Texten. Die beiden Frauen sind Hubatum und Annu-tabni. Hubatum gibt ein Orakel gegen die Yaminiten, einen Stamm, der sich manchmal gegen Zimri-Lims Oberherrschaft auflehnte. Annu-tabni wird als Empfängerin eines utuplum-Gewandes, als Teil der Verteilung von Kleidung durch königliche Beamte aufgeführt. Es gibt noch eine weitere, wenn auch anonymen muhhutum, die in einem Brief der Königinmutter Addu-Duri erwähnt wird. Diese ermahnt den König, nicht auf einen Feldzug zu gehen, sondern in Mari zu bleiben.
Dem gegenüber gibt es nur eine apiltum namens Innibana, die in den Texten bezeugt wird, während es neun benannte apilum-Propheten gibt und in weiteren Texten apilum-Propheten erwähnt werden, deren Namen nicht erhalten sind. Diese Spezialisten und Spezialistinnen für Prophezeiungen hatten in der mariotischen Gesellschaft einen relativ hohen Status inne, wenngleich dieser doch deutlich unter dem von einigen anderen religiösen Spezialisten lag. Das bedeutet womöglich, dass es in Mari zwar Männer und Frauen gab, die sich mit professioneller Prophetie beschäftigten, Frauen aber meist mit einer niedrigeren Position zufrieden sein mussten
In einen Ritualtext wird beschrieben, dass in dem Fall, dass die Ekstatiker nicht in einen Zustand von Ekstase geraten, die Musiker weggeschickt werden.
Neuassyrisch
In den neu-assyrischen Dokumenten wurden folgende Namen von vermutlichen Prophetinnen aufgenommen bzw. sind erhalten geblieben: Ahāt-abīša, Dunnaša-āmur, Issār-bēlī-da''ini, Mulissu-abu-usrī, Mullissu-kabtat, Rēmūt-Allati, Sinqīša-āmur und Urkittu-šarrat.
Es gibt drei Fälle, in denen das Geschlecht des Propheten umstritten ist: Baia (oder Bayâ), Ilussa-amur (Ilūssa-mur) und Issar-la-taslat. Baias Name wird in zwei der drei Texte mit einem weiblichen Determinativ geschrieben. Im dritten Text wird die Person als ein "Sohn von Arbela" bezeichnet .Der Name von Ilussa-amur wird in zwei Texten mit einem weiblichen Determinativ geschrieben, konnte in einem davon jedoch womöglich als männlicher Name identifiziert werden. In dem Text, in dem Issar-la-taslat erwähnt wird, ist der Geschlechtsdeterminativ vor dem Namen umstritten, die weibliche Form des Namens wäre aber wohl Issar-la-tasittl gewesen. Es wurde vorgeschlagen, dass der weibliche Geschlechtsdeterminativ vor einem offensichtlich männlichen Namen ein Schreibfehler sein könnte und nicht notwendigerweise eine Kastration oder eine geschlechtsübergreifende Kleidung und/oder ein geschlechtsspezifisches Verhalten anzeigen müsse.
(PDF) Female Prophets in the Ancient Near East | Jonathan Stökl - Academia.edu
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