Die zweite Hälfte des zweiten Jahrtausends v.u.Z. war in Babylonien eine Phase relativer politischer Stabilität. Die Dynastie der eingewanderten Kassiten (ca. 1530–1155 v.u.Z.) dominierte nach dem Fall der amoritischen Dynastie von Babylon die Geschicke des Landes fast 400 Jahre lang. In diese Epoche fällt, bisherigen Untersuchungen nach, jene Phase, in der die tradierten Texte zur Literatur, Religion und Wissenschaft einen Prozess der Standardisierung durchlaufen und zu den Serien geformt werden, die dann in den Bibliotheken des ersten Jahrtausends v.u.Z. zu finden sind. Jedoch liegt die Beleglage für die mittelbabylonische Zeit in krassem Widerspruch zu ihrer textgeschichtlichen Bedeutung, denn aus dieser Zeit sind bislang nur sehr wenige literarische Texte bekannt geworden, die darüber hinaus nur selten genau zu datieren sind. Konkrete Aussagen über Serialisierung der Texte in mittelbabylonischer Zeit finden wir erst in den Kolophone des 1. Jt. v.u.Z..
Die Tontafel VAT 9663/KAR 177 aus dem 1. Jt. v.u.Z. erzählt:
25-32 „Günstige Tage nach dem Wortlaut von sieben Tafeln, Originale aus Sippar, Nippur,Babylon, Larsa, Ur, Uruk und Eridu. Die Gelehrten exzerpierten, wählten aus und überreichten (sie) Nazimaruttas, dem König der Welt.“
Dieser Kolophon wird immer wieder als Beleg dafür herangezogen, dass die Kanonbildung bereits zu Zeiten des kassitischen Herrschers Nazimaruttas, der von 1308–1242 v.u.Z.. regierte, erfolgte. Jedoch datieren alle Abschriften aus dem ersten Jt. v.u.Z. und stellen damit keinen zeitgenössischen Beleg für die kassitische/mittelbabylonische Zeit dar.
Der Vermerk über die Übergabe des neu geschaffenen Textes an den babylonischen König Nazimaruttas schildert die Arbeitsweise, in der Vorlagen aus sieben verschiedenen Städten erwähnt werden. Auch wenn die im Alten Orient so bedeutungsträchtige Zahl „7“ Zweifel an dem Wahrheitsgehalt des Textes hervorruft, so zeigt sie doch, dass die „Arbeit am Text“ unter Berücksichtigung möglichst vieler verschiedener Traditionen den Gelehrten durchaus vertraut war.
Ein anderer Kolophon, diesmal aber tatsächlich auf einer mittelbabylonischen Tafel, hat dazu geführt, dass die Entstehung einer bestimmten Omenserie mit der Zeit des spätkassitischen Königs Meli-sipak (1186–1172 v.u.Z.) in Verbindung gebracht wurde. Diese Tafel wird als Manuskript für diese Omen-Serie aufgefasst.
„Zusammen 25 Omina, Vorlage aus Assyrien, Monat Arahsamna, achter Tag, drittes– zweites Jahr des Königs Melisipak.“
Trotz einiger Zuordnungsprobleme ist dieser Text zumindest aber ein Beleg für die intensive Arbeit mit wissenschaftlichen Texten in der kassitischen Zeit. Weiterhin deutet die Ähnlichkeit des Textes zu Teilen der späteren Serie darauf hin, dass die Textformung, also der Aufbau des Textes und die Anordnung der einzelnen Omina, bereits in kassitischer Zeit einen gewissen Standard erreicht hatte, so dass die Texte mit nur wenigen Änderungen bei der Bildung der Textserien aufgenommen wurden.
Ein weiterer Hinweis auf die kassitische Zeit als eine Blüte der Gelehrsamkeit findet sich auch in den Familiennamen zahlreicher Gelehrtenfamilien aus dem ersten Jahrtausend v.u.Z.. So zeigt sich anhand der in den Kolophonen verzeichneten Genealogien der Schreiber aus dem ersten Jahrtausend v.u.Z.., dass sie sich auf Ahnherren wie Ahiutu, Hunzu’u, Ekur-zakir oder Sîn-leqe-unnini berufen. Diese Ahnherren waren nachweislich in kassitischer Zeit als Gelehrte tätig.
Trotz all dem gibt es aber nach wie vor keinerlei direkte Evidenz dafür, dass die Textserien, die die Bibliotheken des ersten Jahrtausends v.u.Z. füllten, in mittelbabylonischer Zeit geschaffen wurden, denn wenn wir einen Blick auf die religiösen, mantischen und wissenschaftlichen Texte aus der mittelbabylonischen Zeit selbst werfen, dann ergibt sich doch ein recht ernüchterndes Bild, was die Anzahl dieser Texte angeht.
Bild: VAT 9663/KAR 177
https://www.academia.edu/2913381/_Sieben_Tafeln_aus_sieben_St%C3%A4dten_%C3%9Cberlegungen_zum_Prozess_der_Serialisierung_von_Texten_in_Babylonien_in_der_zweiten_H%C3%A4lfte_des_zweiten_Jahrtausends_v_Chr
Bild: https://cdli.ucla.edu/search/archival_view.php?ObjectID=P369145
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